Intoleranz – Ein Gebet für Politiker wird als Verschwörungsformel interpretiert und ein Segensspruch dem Exorzismus gleichgestellt
Peinlich, irritierend, erschreckend, so lauten die Reaktionen auf den Auftritt des abgesetzten Bundeskanzlers bei einem evangelikalen Großevent. Die politischen Gegner erschauern, gestandene Persönlichkeiten fühlen sich verunsichert und hartgesottene Kommentatoren, selbst im Austeilen nicht kleinlich, sind peinlich berührt. In ihrem Eifer erklären die Empörten staatlich anerkannte Religionen zu Sekten und definieren eine ökumenische Veranstaltung unter Teilnahme des über jeden Verdacht erhabenen Kardinals Schönborn zum Funditreffen um. Ein Gebet für Politiker, bei den Fürbitten in Sonntagsmessen üblich, wird als Verschwörungsformel interpretiert und ein Segensspruch dem Exorzismus gleichgestellt. Berührend ist die große Sorge all jener, die mit Religion gar nichts am Hut haben, um deren Missbrauch. Erwartungsgemäß gibt es auch scharfe Kritik aus eigenen Reihen. So durch den Caritasdirektor, der am Tag vor Fronleichnam die Prozessionsteilnehmer mit einem Zynismus belehrt, und durch den Bischof der Evangelischen Kirche, dem offensichtlich die Konkurrenz durch die Freikirchen zu schaffen macht.
Besorgniserregend an diesem hysterischen Getue – man verzeihe den psychiatrischen Fachausdruck – sind weniger Scheinmoral und Arroganz der Empörten als deren intolerante und diskriminierende Haltung. Dem Prediger wird selbst seine frühere Drogensucht vorgehalten. Als ob Sucht in der zivilisierten Welt inzwischen nicht als moralischer Defekt, sondern als Krankheit gälte und als ob Saulus-Paulus-Entwicklungen nicht etwas Positives wären.
Nun geht man bei Politikern, noch dazu im Wahlkampf, immer vom Schlechtesten aus. Edle Motive werden ihnen quer durch alle Parteien nicht zugestanden. Allerding ist es schwer vorstellbar, dass der Meister der Machtpsychologie und medialen (Selbst-)Darstellung, wie Kurz bezeichnet wird, nicht gewusst hat, was in unserer religionskritischen Gesellschaft da auf ihn zukommt. Vielleicht wollte er – für seine Gegner ein unerträglicher Gedanke – einfach das Engagement der Evangelikalen anerkennen und hatte den Mut, zu seiner eigenen religiösen Überzeugung zu stehen. Wenn er aus denselben Motiven gehandelt hat wie muslimische Intellektuelle beim öffentlichen Gebet oder indische Spitzenpolitiker bei rituellen Waschungen, dann verdient es Respekt. Den verstörten Kritikern sei zum Trost ein Wort von Viktor Frankl mitgegeben: „Toleranz besteht nicht darin, dass man die Ansicht anderer teilt, sondern nur darin, diesen das Recht einzuräumen, überhaupt anderer Ansicht zu sein.“
Univ.-Prof. Prim. Dr. Reinhard HALLER
Psychiater, Psychotherapeut